Steintafeln zum 1. Weltkrieg

Wer das Hauptgebäude der RWTH, am Templergraben 55 neben dem Super C, betritt und die Treppen zur Aula I, vorbei am Rektorat, hinaufgeht, läuft direkt auf das zentralste Mahnmal der RWTH zu. Über der Tür prangt die Inschrift „Als es galt fürs Vaterland, treu die Klinge war zur Hand, war es auch zum letzten Gang“. Darunter stehen etwa 170 Namen in große Steinplatten gehauen, Angehörige der RWTH, die im 1. Weltkrieg gefallen sind. 1 Als der präsenteste Ort des Gedenkens der Hochschule, im Hauptgebäude, nur wenige Meter vom Büro des Rektors, im Herzen des Campus der RWTH, waren die Tafeln schon mehrfach Grund für Kontroversen innerhalb der Studierendenschaft und zwischen Studierendenschaft und Hochschule. 1 Entstehungsgeschichte, -zeit und -umstände waren nach dem 2. Weltkrieg lange unklar und konnten erst in den 1990er Jahren näher geklärt werden. 1
Dieser Artikel soll nach einer Darstellung der Entstehungsgeschichte und den Umständen der Entstehung der Tafeln auch den späteren Umgang und die Kritik gegenüber dem Denkmal beschreiben. Mehr noch als um eine historische Einordnung geht es aber auch um einen Blick auf die Erinnerungskultur der RWTH, den Umgang mit der eigenen Rolle im ersten Weltkrieg und die Verfehlungen. Am Ende steht die Frage, wie ein zeitgemäßer Umgang mit den Gefallenen des ersten Weltkrieges und mit den Steintafeln im Hauptgebäude aussehen kann.

 

Die RWTH im ersten Weltkrieg

Als am 28. Juli 1914 der erste Weltkrieg ausbrach, war auch unter den Studierenden und anderen Angehörigen der RWTH die Bereitschaft groß, in den Krieg zu ziehen. Wie an vielen Hochschulen im Kaiserreich löste der Kriegsbeginn auch in Aachen „eine Welle von nationalem Pathos und Kriegsbegeisterung“ aus. Die politische Orientierung der Studierenden, gerade in Korporationen (Verbindungen), lässt sich in besonderem Maße als „kaisertreu, antidemokratisch, antisemitisch […] und antifranzösisch“ beschreiben. 1 Für viele ist die Pflichterfüllung der Vaterlandsverteidigung zentrales Motiv, in den Krieg zu ziehen, gerade die Nähe zur Grenze in Aachen dürfte dies noch verstärkt haben. 5,6

Schon kurz nach Ausbruch des Krieges, am 01.08.1914, ruft der damalige Rektor der RWTH, Adolf Wallichs im „Echo der Gegenwart“, einer katholischen, auch überregional beachteten Tageszeitung, zur Teilnahme am Krieg auf:

Kommilitonen! Der König ruft in schwerer Stunde das Volk zu den Waffen zur Verteidigung des geliebten Vaterlandes. Begeistert folgen wir diesem Rufe! Burschen heraus! Wenn es gilt fürs Vaterland, treu die Klingen dann zur Hand! habt Ihr so häufig gesungen, macht dieses Gelöbnis rasch zur Tat! Denn wir haben Feinde ringsum. Dank unserer Volkskraft werden wir sie niederringen, wenn alle Bürger zur Stelle sind.Studenten, fehlt nicht! Frisch auf zur Tat! Kommilitonen, die Ihr noch nicht militärpflichtig seid, zeichnet Euch ein zum freiwilligen Eintritt in das Heer! Die Liste liegt aus beim Kastellan im Hauptgebäude.

Dem Aufruf des Rektors folgten etwa 300 Studenten, was knapp 40% der Studierenden von 1914 entsprach, und zwei Professoren, genaue Zahlen sind heute nicht mehr zu rekonstruieren. Auch die in Aachen Verbleibenden unterstützten das deutsche Heer, so wurde die Talbothalle, eine 1914 erbaute Sporthalle der Hochschule, zum Lazarett umfunktioniert, Professorentöchter halfen als Krankenschwestern aus. Von den Angehörigen der RWTH, die Kriegsdienst im ersten Weltkrieg leisteten, fielen etwa 200.7

Der erste Weltkrieg gilt als einer der ersten hochtechnisierten Kriege. Zum ersten Mal fanden Panzer, Flugzeuge, Giftgas und andere moderne Waffensysteme in großer Zahl Einsatz. David Lloyd George, ehemaliger britischer Kriegs- und Premierminister, bezeichnete den Krieg gar als „Krieg der Ingenieure“. Der technische Sachverstand der RWTH-Studenten wurde beim Militär geschätzt und in den technischen Bereichen genutzt. Bemerkenswert ist es, dass gerade die Studenten von technischen Hochschulen die Mechanisierung des Krieges bedauerten, so schrieb ein Student der TH Charlottenburg von einer „Industrie gewerbsmäßigen Menschenschlachtens“. 8

Doch der Beitrag der RWTH zum ersten Weltkrieg umfasst weit mehr als den Einsatz ihrer Studenten und Dozenten. Auch Material (Metalle, Leuchtpetroleum etc.) und „kriegswichtige Maschinen“ wurden benötigt und von der Hochschule bereitgestellt. Elektrische Maschinen und Apparate unterlagen einer Meldepflicht und mussten bei Bedarf abgegeben werden. Assistenten und Dozenten wurden teilweise als Vorarbeiter in Rüstungsunternehmen eingezogen und so war der Lehrbetrieb nicht mehr in dem Maße wie vor dem Krieg aufrechtzuerhalten. Vorlesungen mit zwei bis drei Studenten waren nicht ungewöhnlich, der mündliche Teil der Doktorprüfung viel weg. Mangels Dozenten mussten viele Kurse gekürzt werden, das Studium wurde zu einem Notstudium beschnitten. Teilweise mussten fachfremde Professoren Fächer von Dozenten im Kriegseinsatz übernehmen. 9,10

Unberührt von den Einsparungen und Einschränkungen des Krieges blieb der Forschungsbetrieb.: Besonders die Metallhüttenkunde leistete Kriegsrelevante Forschung zur Herstellung neuer und bekannter Legierungen angesichts der Ressourcenknappheit aufgrund unmöglich gewordenen Importe aus dem Ausland. Auch die Herstellung von Schwefelsäure mit in Deutschland verfügbaren Rohstoffen geht auf Aachener Forschung zurück. Dies deckt sich mit der Arbeit anderer technischer Hochschulen, besonders zu nennen ist hier Fritz Haber, der Gaskampfstoffe an der TH Karlsruhe entwickelte, deren militärische Nutzung forderte und den Gaskrieg im ersten Weltkrieg maßgeblich begleitete. 11

Entstehung der Steintafeln

Lange ging man an der RWTH davon aus, dass die Steintafeln im Hauptgebäude gemeinsam mit dem Neubau der Aula 1939/40 aufgestellt worden seien. 12 Wie sich später durch Recherchen einiger Studierender herausstellte, lässt sich die Enthüllung der Platten deutlich davor datieren. 13

Bereits unmittelbar nach dem ersten Weltkrieg verfasste der damalige Rektor der RWTH Friedrich Klockmann einen Brief an Verwandte von Gefallenen sowie Fachbereiche der Universität. In dem Schreiben vom 17. Juli 1918 bittet er um die Zusendung „ein[es] Bild[es] Ihres gefallenen Sohnes“ zwecks Anfertigung eines Albums der für „das Vaterland gestorbenen Angehörigen“ der RWTH. 14 Es gab daraufhin zahlreiche Zuschriften von Familienmitgliedern, Verbindungen und Institutionen an der Hochschule. 15

Professor August von Brandis aus der Fakultät für Architektur wurde mit der Aufgabe betraut, ein Denkmal für die Gefallenen des ersten Weltkriegs zu entwerfen. 16 Dies geht einher mit einer Vielzahl von Denkmälern in den Aachener Stadtbezirken, die in den 1920er und 30er Jahren entstanden. Das bekannteste Beispiel ist sicherlich das 1933 enthüllte Denkmal für die gefallenen des ersten Weltkriegs in einem Turm der ehemaligen Stadtmauer in der Ludwigsallee. 17 Die nach den Entwürfen von v. Brandis gefertigten Steintafeln wurden am 2. Juli 1925 enthüllt, schon damals vor der Halle des Hauptgebäudes. 18 In den folgenden Jahren gab es einige Anpassungen der Tafeln, so wurden 1928 gezielt Korporationen (Burschenschaften) kontaktiert und fehlende Namen von Gefallenen nachgetragen 19 und 1929 die Tafeln durch Tönen der Schrift lesbarer gestaltet.20

Als die Aula und damit auch das Eingangsportal und der Treppenaufgang 1940 dank einer Spende der Aachener und Münchener Feuerversicherungsgesellschaft (Besser bekannt als AachenMünchener Versicherung, seit 2020 Generali wie der Mutterkonzern. Die Aula I heißt nach wie vor Aachener und Münchener Halle) neu gebaut wurde, 21 wurden auch die Steintafeln erneuert und fehlende Namen ergänzt. 22 Dies sollte bis heute die letzte Änderung der Tafeln sein, abgesehen von gelegentlichem Aufpolieren der Gedenktafeln, beispielsweise anlässlich der 125-Jahr-Feier der RWTH 1995. 23

Die Überschrift der Tafeln: „Als es galt fürs Vaterland, treu die klinge war zur Hand, doch es war zum letzten Gang ist entnommen aus dem Lied „Burschen heraus“ welches seit 1844 in der deutschen Studentenschaft bekannt und verbreitet ist. Das Lied stammt aus Zeiten, als deutsche Studenten für ein geeintes Deutschland kämpften. Sie lehnten die feudale Ordnung ab und forderten eine konstitutionelle Monarchie. Das Lied wurde nach der gescheiterten Revolution von 1848 und besonders im Kaiserreich neu besetzt. Dort heißt es in der dritten Strophe:

Burschen heraus! Lasset es schallen von Haus zu Haus!
Wenn es gilt fürs Vaterland
, treu die Klingen dann zur Hand,
und heraus mit
mut’gem Sang, wär es auch zum letzten Gang!
Burschen heraus
!

In seinem Aufruf nimmt auch Professor Wallichs Bezug auf dieses Lied, da jedoch verschweigt er die letzte Zeile.24

Bei der Enthüllung der Tafel 1925 machen Rektor Hermann Bonin und stellvertretender Vorsitzender der Studentenschaft Fraisewinkel deutlich, in welcher Form den Gefallenen gedacht werden soll. In seiner Ansprache rezitiert Bonin die oben genannte dritte Strophe des Liedes „Burschen heraus“ und fährt fort zu betonen, dass alle „waffenfähigen Männer und Jünglinge“ dem Aufruf Wallichs freudig gefolgt seien.

Mit Begeisterung hörten wir von den schweren Kämpfen, den glänzenden Siegen, an denen unsere Leute teilgenommen haben. Mit leuchtenden Augen vernahmen wir, daß wirklich die akademische Jugend mit mutigem Gang sich die Feuertaufe holte.

Weiter ist vom „Heldentod“ und „Ehrenfriedhöfen“ die Rede, der trauernde Ton der Briefe des Rektors von 1918 ist einer patriotischen Verklärung des Krieges gewichen. Rektor Bonin spielt auf die Dolchstoßlegende25 an, die unter Professoren und Studenten verbreitet und akzeptiert war:26

Und dann kamen schwere Zeiten; der Zusammenbruch unserer Wehrmacht! Bruderkämpfe im Inneren, Zeichen auch eines moralischen Verfalles.
Es kamen Zeiten, in denen es fast schwerer schien, für das Vaterland zu
leben als für es zu sterben; Zeiten, in denen wir diejenigen fast beneideten, die in Feindesland unter dem kühlen Rasen ruhten.

Es macht sich hier auch eine Abneigung gegenüber der Weimarer Demokratie deutlich, die in der Gesellschaft und besonders unter Studierenden weit verbreitet war.27
Zur Form des Denkmals erläutert Bonin

Nicht ein außerhalb unserer Hochschule stehender Denkstein, nicht eine entfernbare oder entfernbar zu denkende Tafel soll die Namen unserer Helden zeigen, sondern sie sollen fest und innig mit unserer Hochschule selbst verwachsen sein, und wie wir hoffen, daß dieses Gebäude noch in die Jahrhunderte hineinragen wird und noch Generationen von tüchtigen deutschen Ingenieuren erziehen wird, so sollen auch ihre Namen in die Jahrhunderte hinein fortleben als ein glänzendes Vorbild äußerster Pflichterfüllung für künftige Geschlechter.

Und er schließt seine Enthüllungsrede mit den Worten:

Süß ist es und ehrenvoll, für’s Vaterland zu sterben.28

Diese Phrase stammt vom Dichter Horaz und ist ein Beispiel für die patriotische Verklärung der Schreckend des Krieges, die in dieser Form auch bei anderen Kriegsparteien stattfand.

Der Rede des Rektors folgt die des stellvertretenden Vorsitzenden der Studentenschaft Fraisewinkel. Auch er lobt den patriotischen Einsatz der Soldaten für „Deutschlands Glück“.

Den Blick voran, so wollen wir uns mutig daran begeben, an ihrem Werke neu zu bauen. […] So wollen wir an dieser Stelle unseren Toten geloben, daß wir ihr Andenken in Ehren halten und in ernster Arbeit zu Ende führen werden.
Denn Deutschland muss leben!
29

Es ist hier von Trauer keine Rede mehr, der Tod wird als „Schicksal“ abgetan und eine Absicht, der Gräuel des Krieges zu erinnern ist mitnichten zu erkennen.

Die Dolchstoßlegende bezeichnet eine von der Oberen Heeresleitung nach dem Ende des ersten Weltkrieges verbreitete Verschwörungstheorie. Statt die Niederlage des deutschen Reichs einzugestehen, behauptete man „im Felde unbesiegt“ gewesen zu sein und bezichtigte Sozialdemokrat*innen, andere demokratische Politiker*innen und das „bolschewistische Judentum“ des Verrats. Diese „Vaterlandslosen“ hätten dem deutschen Reich einen Dolchstoß von hinten zugefügt. Die Dolchstoßlegende gilt als bewusste Geschichtsfälschung und befeuerte antisemitische, antidemokratische und antisozialistische Ressentiments in der Bevölkerung.

Kritik an den Steintafeln

Diese Form des Gedenkens und die Aufschrift über den Tafeln führten seit 1989 mehrfach zu Kritik und Protesten gegen das Denkmal im Eingangsbereich des Hauptgebäudes.

Anstoß für den Protest waren Reparaturarbeiten an den Steintafeln zu Beginn des Jahres 1989. In der Studierendenschaft wurde heftig diskutiert, ob diese Form des Gedenkens einen Platz an der RWTH haben kann und darf. Auf Anregung der MAI (Maschinenbau-Initiative, Gruppe aus der Fachschaftsvertretung Maschinenbau) entstand ein Brief, der von verschiedenen Fachschaftsvollversammlungen unterstützt wurde. Am 10. Mai wurde er auch vom Studierendenparlament der RWTH verabschiedet und dem damaligen Rektor Klaus Habetha zugesandt:

Sehr geehrter Herr Habetha,
die Reparaturarbeiten an den Heldengedenktafeln
am Eingang zur Aula haben seit Beginn des Jahres zu Diskussionen unter Studentinnen und Studenten geführt.
Wir glauben,
daß dieses Heldendenkmal baldmöglichst beseitigt werden sollte. Eine solche Verherrlichung von Heldentod und Krieg ist mit den Grundsätzen einer friedlichen und demokratischen Gesellschaft nicht in Einklang zu bringen.
Die Hochschule sollte an dieser Stelle ein modernes Denkmal errichten, das
an die Verbrechen des nationalsozialistischen Deutschland erinnert. Es sollte denen gewidmet sein, die wegen schuldhafter Verstrickung einzelner Hochschulangehöriger und der RWTH als Institution gelitten haben und ermordet worden sind.
Durch ein solches Denkmal am Eingang zur Aula würde die Hochschule
ein kritisches und waches Geschichtsbewusstsein zum Ausdruck bringen und gleichzeitig die Diskussion um die Vergangenheit anregen.
Wir schlagen daher vor, eine Kommission zu gründen,
die einen Wettbewerb zur Neugestaltung des Aulaeingangs ausschreibt und dann verschiedene Vorschläge vorlegt. An der Wahl des letztlich zu verwirklichenden Konzeptes sollten alle Hochschulangehörigen teilnehmen können.30

In der Folge wurden die Forderungen der Studierenden im Senat diskutiert. Auf Nachfrage des studentischen Senators Debener erläutert der Rektor, dass die Forderungen im Rektorat diskutiert worden seien, man allerdings zu dem Entschluss gekommen sei, die Tafeln nicht zu ersetzen. „Man erkenne in der Gedenktafel keine Heldenverehrung […]. Zudem solle man solche aus der Geschichte der hiesigen Hochschule entstandenen Zeugnisse nicht so leichtfertig entfernen. Diese Gedenktafeln gäben die Auffassung der damaligen Hochschulangehörigen wieder.“31 Die Debatte im Senat ist geprägt von der, aufgrund der schlechten Datenlage getroffenen, falschen Annahme, dass die Steintafeln gemeinsam mit dem Neubau der Aula 1940 und damit in der Zeit des Nationalsozialismus entstanden seien. Senator Demmer führt aus, dass man auch im Studierendenparlament geteilter Meinung bezüglich des Umgangs mit den Tafeln sei, es hätten sich 21 der 41 Mitglieder für eine Entfernung ausgesprochen, während die übrigen 20 dagegen gewesen wären. Hier ist besonders der RCDS zu nennen, der eine Entfernung für „Geschichtsglättung“ hielt und den anderen Gruppen vorwarf, die Gefallenen des Krieges mit Füßen zu treten.32 Als Kompromiss schlägt Demmer die Anbringung einer Hinweistafel neben dem Denkmal vor, so könne man zum Nachdenken anregen, ohne die Spuren der damaligen Zeit im Nachhinein zu verwischen. Professor Johannes Erger wirft der Gruppe, die für eine Entfernung plädiert, vor, Geschichtsereignisse nachträglich verändern zu wollen. Es kommt in der Debatte zu keiner Einigung.33

Die Debatte im Senat veranlasste die Fachschaft Philosophie in Ihrer Zeitschrift PhilFalt einige Thesen zur Diskussion zu veröffentlichen, es ging hierbei vor allem um die oft vorgebrachte Argumentation, dass der Weltkrieg an sich zwar menschenfeindlich und falsch war, die Soldaten als Individuen aber zu ehren seien. Die Autor*innen geben zu bedenken, dass gerade der Fakt, dass viele Soldaten freiwillig, gar euphorisch in den Krieg zogen heute umso mehr Anlass zum Reflektieren und kritischen Hinterfragen sein muss. 

Dass die Soldaten im ersten Weltkrieg Täter, ja „Mörder“ waren, schließe nicht aus, dass sie auch Opfer gewesen sein können. Doch erst das Anerkennen einer Mittäterschaft ermögliche einen Weg hin zu einem antimilitaristischen und pazifistischen Bewusstsein und damit hin zu einem effektiven Widerstand der Gesellschaft gegen totalitäre Tendenzen. Das Argument, die Tafeln seien ein historisches Dokument gehe nach Meinung der Autoren an der Realität vorbei. „1. hat man nach dem zweiten Weltkrieg alle Hakenkreuze und Reichsadler demontiert und 2. wurde ganz ausdrücklich nicht ein kommentarloses Abnehmen, sondern eine dauerhafte Dokumentation […] gefordert.“, der „historische ‚Wert‘“ der Tafeln bliebe also erhalten, es gehe mehr darum, diese Form des Heldengedenkens, dass die Schrecken des Krieges mit einem Schein der „Ehre“ überziehen wolle, abzuschaffen.34

Der Konflikt konnte nicht aufgelöst werden. Die Gegner*innen einer Beseitigung argumentierten, die Tafeln zeigten, dass „im Krieg immer alle Opfer sind“ und hielten die Erinnerung an das Sterben Tausender auf den Schlachtfeldern wach. Die Steintafeln seien ein Mahnmal für den Frieden und ihre Beseitigung käme dem Versuch gleich, Geschichte umschreiben zu wollen. Die Befürworter*innen einer Beseitigung sahen in den Tafeln eine Form der Kriegsverherrlichung und verknüpften sie mit antidemokratischer und nationalistischer Gesinnung.35

In der Senatssitzung vom 06.12.1990 erläutert der Rektor auf erneute Nachfrage des studentischen Senators Diepers, wie der Stand der Dinge bezüglich der Steintafeln sei, dass eine Sonderkommission unter Beteiligung von Studierenden die Thematik diskutiert habe. Man sei dort zu dem Entschluss gekommen, die Tafeln als historisches Dokument für sich wirken zu lassen, vor allem in Anbetracht der Erkenntnis, dass die Tafeln bereits 1925 enthüllt wurden. Dies hatte ein Student bei der Recherche herausgefunden. Auch sei bei Nachforschungen aufgefallen, dass die Hochschule im Jahre 1953 eine Statue zum Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus gestiftet habe (siehe weinender Jüngling). Eine Hinweistafel sei machbar, aber nicht wünschenswert.36

Erneute Aufmerksamkeit erlangte das Denkmal durch eine Aktion von Student*innen der Fachschaft Lehramt im Jahr 1991. Anlässlich studentischer Aktionstage zum Golfkrieg brachten diese ein Banner und damit eine neue Überschrift an den Tafeln an, für wenige Stunden prangte der Spruch „Der Tod ist ein Meister aus Deutschland37 über der Aula. Thema der Aktionstage waren vor allem die Rüstungsexporte der BRD und die Frage nach Rüstungsforschung an der RWTH.38,39

Begleitend zum 125jährigen Bestehen der RWTH gaben ehemalige und damals aktive Studierende einen Sammelband von Aufsätzen zur Geschichte der Hochschule heraus. Dieser setzte sich kritisch mit der Universität auseinander und war als Gegenentwurf zur offiziellen Festschrift gedacht. In seinem Aufsatz „Süß ist es und ehrenvoll, für‘s Vaterland zu sterben“ setzt sich der ehemalige studentische Senator der RWTH, Hermann-Josef Diepers mit den Steintafeln auseinander. Er fasst die Diskussionen um die Tafeln 1989/90 aber auch die Entstehung zusammen. Der Aufsatz schließt mit den Worten:

An die Adresse der RWTH bleibt daher zu fragen, wie lange sie noch der Täter gedenkt und dies als Opfergedenken bezeichnet. Ein würdiges Denkmal sollte denen gelten, die sich gegen menschenverachtende Kriegspolitik (nicht nur der Nationalsozialisten) wandten und deshalb auch innerhalb der TH verfolgt wurden, wie das Beispiel der Professoren Meusel40 und Blumenthal41 zeigt.
Die Tafeln in der Aula gehören beseitigt!42

Zum bis dato letzten Mal wurde das Thema in der studentischen Zeitung Kármán Nr. 38 von 2008 aufgegriffen. Im Leitartikel mit dem Titel „Neue Helden für die RWTH – Warum der Spruch über der Aula I problematisch ist“ fordern die Autor*innen, die Tafeln nicht unkommentiert stehen zu lassen, sondern sie mittels einer Informationstafel in den korrekten historischen Kontext einzuordnen. Provokativ schließt der Artikel mit der Frage „ob die RWTH keine anderen ‚Helden‘ zu bieten hat als Kriegstote“. Der Artikel blieb nicht ohne Wirkung, die RWTH brachte eine Plakette neben der Tafel an.

Alfred Meusel war seit 1930 ordentlicher Professor für Volkswirtschaftslehre an der RWTH und wurde 1933 aus politischen Gründen entlassen, Grund hierfür war seine Nähe zur KPD und die ehemalige Mitgliedschaft in der SPD. Die Entlassung folgte der Denunziation durch den AStA. Meusel konnte fliehen und starb 1960 in Ost-Berlin.

Otto Blumenthal war seit 1905 Professor für Mathematik an der RWTH und wurde 1933 aus politischen Gründen entlassen, Grund hierfür waren seine jüdischen Großeltern sowie die Mitgliedschaft in der „Deutschen Liga für Menschenrechte“. Die Entlassung folgte der Denunziation durch den AStA. Blumenthal starb 1944 im Konzentrationslager Theresienstadt.

Fazit

Anders als 1989 angenommen entstanden die Steintafeln nicht in der Zeit des Nationalsozialismus sondern 8 Jahre vor der Machtübernahme Hitlers, 1925. Doch die Fragestellung, ob diese Art des Gedenkens heute noch angemessen ist, bleibt bestehen.

Als Jugendliche und junge Männer im Jahr 1914 für Deutschland an die Front zogen, taten sie das häufig unter falschen Vorstellungen vom Krieg der sie erwartete und aufgrund eines gesellschaftlich weit verbreiteten Patriotismus. Für viele Soldaten an der Front war der „Kriegstaumel“ bald vorbei und mehrere Millionen ließen ihr Leben in diesem hochtechnisierten Krieg, teilweise in aussichtslosen Stellungsschlachten, manche nahmen den Krieg als regelrechte industrielle Abschlachtung wahr.

Doch diese Schrecken und Grausamkeiten des Krieges wurden in der Nachbetrachtung unmittelbar nach dem Krieg nicht zur Sprache gebracht. Stattdessen überhöhte man den Einsatz der deutschen Soldaten zu einem patriotischen, fast märtyrerhaften Akt. Die Jugendlichen und jungen Männer seien für das „Glück der deutschen Nation“ gestorben. Der mit den Siegermächten geschlossene Vertrag wurde in vielen Kreisen als Verrat am deutschen Volk gesehen.

In dieser Tradition steht auch das Mahnmal für die Gefallenen des ersten Weltkriegs der RWTH. Die Tafeln verehren die Gefallenen eindeutig als Helden, was in den Enthüllungsreden besonders deutlich wird. Das nationalistische Gedankengut und die Verklärung des Krieges durchsetzen die Reden des damaligen Rektors und des Studentenführers. Sie machen klar: Unsere Helden, die Helden des deutschen Volkes, sollen auf ewig fest verbunden mit der Hochschule sein, ideologisch und architektonisch.

Mehrfach haben Studenten ihre Kritik an diesem „Heldendenkmal“ geäußert, die Hochschule hat die Einwände nie aufgenommen. Anfangs lehnte man die geforderte Ersetzung einfach ab und warf Studierenden vor, die Geschichte bereinigen zu wollen. Später wollte man in den Tafeln keine Heldenverehrung erkennen. Auch bei der erneuten Kritik 2008 war die Antwort nicht etwa eine Auseinandersetzung mit dem Denkmal, sondern eine kleine Infotafel mit einem Link zu einem Wikipedia-Artikel. All das ist kein gelungener Umgang mit der Geschichte, sondern der dürftige Versuch, studentischen Protest zu beschwichtigen.

In Ihrer Grundordnung betont die RWTH, ausschließlich friedliche Ziele zu verfolgen und ihren Beitrag zu einer nachhaltigen, friedlichen und demokratischen Welt zu leisten.43 Der erste Weltkrieg und das Gedenken der Soldaten dieses Krieges in einer rühmenden Darstellung, die die Gräuel des Krieges verschleiert stehen mit diesem Grundsatz mindestens im Konflikt. Der Standort und die Form des Denkmals machen die Steintafeln im Hauptgebäude zur sichtbarsten und präsentesten Form des Gedenkens an der RWTH. Gerade im Hinblick auf die Menge der Studierenden, die täglich an den nahezu unkommentierten Tafeln vorbeiläuft, ist es doch zumindest fraglich, ob die Universität hier ihrem Anspruch an sich gerecht wird und ob es nicht wohl bessere Gegenstände des Gedenkens gäbe. Oder anders: Hat die RWTH denn keine anderen Helden zu bieten als Kriegstote?

 

Dank

Besonderer Dank gilt ohne gesonderte Hierarchie:

  • Dem Hochschularchiv der RWTH
  • Der Stadtbibliothek Aachen
  • Der Fachschaft Philosophie für die Bereitstellung von Ausgaben der PhilFalt
  • Herrn Hermann-Josef Diepers und allen beteiligten Autor*innen für „…von aller Politik denkbar weit entfernt“, ein Beispiel und Vorbild für engagierte Studierendenschaft und definitiv eine spannende Lektüre

Literatur:

Autorenkollektiv (1995), …von aller Politik denkbar weit entfernt – Die RWTH – Ein Lesebuch, Aachen.

Ricking, Klaus (1995), Der Geist bewegt die Materie – Mens agitat molem. 125 Jahre Geschichte der RWTH, Aachen.

Klinkenberg, Hans Martin (1970), Rheinisch-Westfälische Technische Hochschule Aachen 1870|1970, Stuttgart.

Zirlewagen, Marc (2008), Wir siegen oder fallen – Deutsche Studenten im Ersten Weltkrieg, Köln.

Diverse Akten des Hochschularchivs der RWTH, insbesondere Akte Nr. 584

https://zeitpunkt.nrw/ für Ausgaben des „Echo der Gegenwart“ und des „Politisches Tageblatt – Aachener Anzeiger“

Verweise:

1 https://www.archiv.rwth-aachen.de/web/Online%20Praesentation%201_WK/index.htm abgerufen am 03.12.2021
2 Hermann-Josef Diepers, „Süß ist es und ehrenvoll, für’s Vaterland zu sterben“ in „…von aller Politik denkbar weit entfernt“, S. 81
3 Ebd., S. 85
4 Ralf Schröder, „Fragmente zur Geschichte und Gegenwart Aachener Studentenverbindungen“ in „…von aller Politik denkbar weit entfernt“, S. 17-22
5 Klaus Ricking, „Der Geist bewegt die Materie – Mens agitat molem. 125 Jahre Geschichte der RWTH Aachen“, S. 118 f.
6 Martin Biastoch, „Studenten und Universitäten im Kaiserreich – Ein Überblick“ in „Wir siegen oder Fallen“
7 Ricking, S. 119
8 Johanna Zigan, „Der erste Weltkrieg als Katalysator für die gesellschaftliche und politische Anerkennung der Ingenieurswissenschaft“ in „Wir siegen oder fallen“
9 Ebd., S. 119 ff.
10 Hans Martin Klinkenberg, „Rheinisch Westfälische Technische Hochschule Aachen 1870|1970“, S. 76 f.
11 Zigan, S. 112 ff.
12 Ebd., S. 110 und Diepers, S. 82
13 Ebd., S. 85
14 Brief des Rektors, Hochschularchiv Akte 584
15 Ebd.
16 Politisches Tageblatt Nr. 504 vom 03.07.1925
17 Diepers, S. 97
18 Politisches Tageblatt Nr. 504 vom 03.07.1925
19 Notiz des Rektors 13.01.1928, Hochschularchiv Akte 584
20 Brief des Rektors an Prof. v. Brandis, Ebd.
21 Klinkenberg, S. 110
22 Brief Prof. Buchkremer an den Rektor, Hochschularchiv Akte 584
23 Diepers, S. 85
24 Ebd., S. 89
25 Die Dolchstoßlegende bezeichnet eine von der Oberen Heeresleitung nach dem Ende des ersten Weltkrieges verbreitete Verschwörungstheorie. Statt die Niederlage des deutschen Reichs einzugestehen, behauptete man „im Felde unbesiegt“ gewesen zu sein und bezichtigte Sozialdemokrat*innen, andere demokratische Politiker*innen und das „bolschewistische Judentum“ des Verrats. Diese „Vaterlandslosen“ hätten dem deutschen Reich einen Dolchstoß von hinten zugefügt. Die Dolchstoßlegende gilt als bewusste Geschichtsfälschung und befeuerte antisemitische, antidemokratische und antisozialistische Ressentiments in der Bevölkerung.
26 Boris Barth, „Professoren, Studenten und die Legende vom Dolchstoß“ in „Wir siegen oder fallen“, S. 377
27 Ebd. und Biastoch, S. 20
28 Enthüllungsrede des Rektors Bonin aus „Politisches Tageblatt – Aachener Anzeiger“ vom 03.07.1925
29 Enthüllungsrede des stellvertretenden Vorsitzenden der Studentenschaft Fraisewinkel aus „Politisches Tageblatt – Aachener Anzeiger“ vom 03.07.1925
30 Diepers, S. 81 f.
31 Sitzungsniederschrift des Senats vom 01.06.1989 S. 26 f., Hochschularchiv Akte 11139
32 Diepers, S. 82
33 Sitzungsniederschrift des Senats vom 01.06.1989
34 PhilFalt 9/89 
35 Notizen zur PhilFalt, Fachschaft Philosophie
36 Sitzungsniederschrift des Senats vom 06.12.1990,
37 Die Worte stammen aus der „Todesfuge“ von Paul Celan. Das Gedicht thematisiert die nationalsozialistische Judenvernichtung und gilt als eines der bekanntesten und bedeutendsten deutschsprachigen Gedichte. Der genannte Satz ist zu einer häufig verwendeten Parole linker Friedensproteste geworden.
38 Diepers, S. 81
39 Näheres zum Thema Rüstungsforschung auch in der Sitzungsniederschrift des Senates vom 07.02.1991, Hochschularchiv Akte 11209 sowie Diepers, S. 239 ff.
40 Alfred Meusel war seit 1930 ordentlicher Professor für Volkswirtschaftslehre an der RWTH und wurde 1933 aus politischen Gründen entlassen, Grund hierfür war seine Nähe zur KPD und die ehemalige Mitgliedschaft in der SPD. Die Entlassung folgte der Denunziation durch den AStA. Meusel konnte fliehen und starb 1960 in Ost-Berlin.
41 Otto Blumenthal war seit 1905 Professor für Mathematik an der RWTH und wurde 1933 aus politischen Gründen entlassen, Grund hierfür waren seine jüdischen Großeltern sowie die Mitgliedschaft in der „Deutschen Liga für Menschenrechte“. Die Entlassung folgte der Denunziation durch den AStA. Blumenthal starb 1944 im Konzentrationslager Theresienstadt.
42 Diepers, S. 97
43 Grundordnung der RWTH in der Fassung vom 13.03.2020, Präambel, S. 4